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News
22.10.2025

Vermutetes Tötungsrisiko im Nahbereich doch widerlegbar?

Der VGH Mannheim hat in einer Entscheidung vom April dieses Jahres (Az.:10 S 1455/23) durch einen Nebensatz Aufmerksamkeit erzeugt. Er hat nämlich die Auffassung vertreten, dass ein vermutetes signifikant erhöhtes Tötungsrisiko im Nahbereich von Brutplätzen besonders geschützter Vogelarten naturschutzfachlich widerlegt werden kann.

Ausgangslage

Im konkreten Fall war eine Windenergieanlage im Abstand von nur 420 m zum Brutplatz eines Rotmilans genehmigt worden. Die Anfechtungsklage, die aufgrund dieser Nähe u.a. einen Verstoß gegen das Tötungsverbot nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG geltend gemacht hatte, hielt das Gericht für unbegründet. Er war der Auffassung, dass die – noch nach „alter“ Rechtslage durchgeführte – gutachterliche Bewertung schlüssig und plausibel sei. Danach sei aufgrund des örtlichen Raumnutzungsverhaltens der Milane, der Habitatausstattung und der Topographie ein signifikantes Tötungsrisiko trotz der unmittelbaren Nähe zum Brutplatz auszuschließen.

Kehrtwende auch bei der Beurteilung nach § 45b Abs. 2 BNatSchG?

So weit, so unspektakulär, denn aufgrund der zeitlichen Abläufe, war zum Zeitpunkt der Genehmigungsentscheidung die Neuregelung gem. § 45b Abs. 2 BNatSchG, der das Tötungsrisiko in Abhängigkeit vom Abstand zum Brutplatz bemisst, auf das Vorhaben nicht unmittelbar anwendbar. Damit auch nicht die – als „unwiderleglich“ bezeichnete – Vermutungsregel für Vorhaben im Nahbereich.

Erstaunliches zum Nahbereich

An dieser Stelle hätte das Gericht schließen können, es führte aber nach der Feststellung, dass die gutachterliche Beurteilung keinen Zweifeln begegne in einem Schlenker aus:

„Eine abweichende Einschätzung ergibt sich nicht aus der Neuregelung des § 45b Abs. 2 BNatSchG i. V. m. Anlage 1 Abschnitt 1, wonach das Tötungs- und Verletzungsrisiko bei einem Abstand zwischen Rotmilanhorst und Windenergieanlage von weniger als 500 m (sog. Nahbereich) signifikant erhöht ist. Denn diese Vorschrift, die zur Vereinfachung des Vollzugs im Interesse des beschleunigten Ausbaus der Windenergie ohne Absenkung der Schutzstandards des Artenschutzrechts eine unwiderlegliche gesetzliche Vermutung enthält […], ist, wie bereits dargelegt, hier nicht anwendbar […]. Sie ist überdies nicht geeignet, die Vertretbarkeit der einzelfallbezogenen Bewertung zu erschüttern. Insbesondere lässt sich aus der Neuregelung nicht ableiten, dass sie einen allgemein anerkannten fachlichen Maßstab normativ abbildet […]  Der Gesetzgeber verfolgt damit vielmehr das Ziel, die artenschutzrechtliche Prüfung zu standardisieren […] § 45b Abs. 1 bis 5 BNatSchG enthält hierzu normative Beurteilungsmaßstäbe, die die Anwendung artenschutzrechtlicher Verbote dort erleichtern sollen, wo sich in den einschlägigen ökologischen Fachwissenschaften keine allseits anerkannten Maßstäbe und Methoden entwickelt haben […] Auch das Wahlrecht des Vorhabenträgers darüber, ob die Sonderregeln in § 45b BNatSchG auf bereits eingeleitete Verfahren anzuwenden ist […], spricht dagegen, dass der normierte Nahbereich einen allgemein anerkannten fachlichen Standard wiedergibt.“

Mögliche Interpretation dieser Auffassung

Beinhaltet § 45b Abs. 2 BNatSchG also doch nur eine – widerlegbare – Vermutung? Man weiß es nicht genau. Fakt ist aber, dass das Gericht die konkrete Einzelfallbeurteilung nicht wegen der neuen Vermutungsregel für unplausibel hielt, weil die Vermutungsregel des § 45b Ab. 2 BNatSchG keinen allgemein anerkannten Fachmaßstab bildet. Vielmehr handelt es sich „lediglich“ um eine gesetzliche Vereinfachung, die eine schlüssige Einzelfallbewertung nicht in Zweifel zu ziehen vermag.

Folgen für die Anwendung von § 45b BNatSchG

Denkt man diese Auffassung konsequent weiter, kann das aber nicht nur für diejenigen Fälle gelten in denen § 45b Abs. 2 BNatSchG ohnehin nicht unmittelbar anwendbar ist. Denn die Frage nach der Existenz eines fachwissenschaftlich allgemein anerkannten Maßstabes ist nicht von der zeitlichen Anwendbarkeit einer Norm abhängig, sondern schlicht davon, ob es sich in der Sache um einen solch anerkannten Maßstab handelt. Ist das nicht der Fall, wie es der VGH offenbar für die Vermutungsregel im Nahbereich annimmt, handelt es sich auch dabei nur um eine vertretbare Auffassung neben anderen. Folge davon wäre, dass man vertretbar und schlüssig auch eine andere Auffassung vertreten kann. Eben im Rahmen einer Einzelfallbeurteilung von Raumnutzung und Habitat, die die das vermutete Tötungsrisiko widerlegt.

ABER!

Nicht ausgeschlossen ist, dass der VGH in Fällen, in denen § 44b Abs. 2 BNatSchG unmittelbar anwendbar ist, dennoch eine Unwiderlegbarkeit annimmt. Zum Beispiel weil er in diesen Fällen dem Gesetzgeber, gerade weil es keine einheitlichen Fachmaßstäbe gibt, eine Pauschalierungsbefugnis zuerkennt. So das die pauschalierte Vermutungsregel doch unwiderlegbar bleibt.

Man darf also gespannt sein, wohin diese Entscheidung in der Praxis führt.