26.11.2018

Naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative – Bundesverfassungsgericht entscheidet

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Rahmen von zwei Verfassungsbeschwerden mit Beschluss vom 23.10.2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14 – über die naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative entschieden. Anlass für die Verfassungsbeschwerden bot die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), wonach einer Behörde unter anderem bei der Entscheidung über die Genehmigung von Vorhaben im Zusammenhang mit der Frage, ob das beantragte Projekt gegen das Tötungsverbot des besonderen Artenschutzrechts nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG verstößt, eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zukomme.

Im Ergebnis hat das BVerfG die zwei Verfassungsbeschwerden, die von Windenergieunternehmen eingereicht waren, als unzulässig verworfen. Die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle folge hier – anders als bei unbestimmten Rechtsbegriffen – nicht aus einer der Verwaltung eingeräumten Einschätzungsprärogative. Sie bedürfe daher keiner ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung. Vielmehr sei dem Gericht erlaubt, seiner Entscheidung insoweit die plausible Einschätzung der Behörde zu der fachlichen Frage zugrunde zu legen, wenn die gerichtliche Kontrolle nach weitestmöglicher Aufklärung an die Grenze des Erkenntnisstandes naturschutzfachlicher Wissenschaft und Praxis stößt. Denn in diesem Fall zwinge Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG das Gericht nicht zu weiteren Ermittlungen.

Allerdings hat das BVerfG auch klargestellt, dass der Gesetzgeber in grundrechtsrelevanten Bereichen Verwaltung und Gerichten nicht ohne weitere Maßgaben auf Dauer Entscheidungen in einem fachwissenschaftlichen „Erkenntnisvakuum“ übertragen darf. Vielmehr müsse der Gesetzgeber jedenfalls auf längere Sicht für eine zumindest untergesetzliche Maßstabsbildung sorgen.

Sachverhalt der Verfassungsbeschwerden

Die Beschwerdeführerinnen begehrten die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für Windenergieanlagen. Eine Genehmigung wurde in beiden Fällen wegen Unvereinbarkeit der Vorhaben mit § 44 Abs. 1 Nr. 1 Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) versagt. Dieser verbietet, wild lebende Tiere besonders geschützter Arten zu töten. Das Tötungsverbot steht der Genehmigung entgegen, wenn sich durch das Vorhaben das Tötungsrisiko für die geschützten Tiere signifikant erhöht. Die Genehmigungsbehörden nahmen in beiden Fällen an, das Risiko der Kollision mit den geplanten Windenergieanlagen sei für Rotmilane signifikant erhöht.

Die Klagen gegen die Versagung der Genehmigungen blieben bis in die Revisionsinstanz erfolglos. Die Verwaltungsgerichte gestanden der Genehmigungsbehörde dabei eine gerichtlich eingeschränkt überprüfbare „naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative“ hinsichtlich der Erfassung des Bestandes und der Bewertung der von dem Vorhaben ausgehenden Risiken zu. Denn  die behördliche Beurteilung richte sich auf außerrechtliche Fragestellungen, für die allgemein anerkannte fachwissenschaftliche Maßstäbe und standardisierte Erfassungsmethoden fehlten. Mit der hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde rügten die Beschwerdeführerinnen vor allem eine Verletzung ihres Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG durch die Einräumung einer behördlichen Einschätzungsprärogative.

Wesentliche Erwägungen des Senats

Die Verfassungsbeschwerden entsprechen Auffassung des entscheidenden Senates schon nicht dem Grundsatz der Subsidiarität. Die Beschwerdeführerinnen machten geltend, dass für die aufgeworfenen außerrechtlichen Fragestellungen zum Tötungsrisiko die nötigen naturschutzfachlichen Erkenntnisse bereits existieren. Dies hätten sie wegen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde im fachgerichtlichen Verfahren rechtzeitig substantiiert vortragen müssen. Es sei nicht auszuschließen, dass sie damit die in ihren Augen verfassungswidrige Begrenzung der gerichtlichen Kontrolle hätten abwenden können, weil die Gerichte daraufhin, ihrem eigenen Ansatz folgend, möglicherweise die Voraussetzungen einer solchen Kontrollbegrenzung verneint hätten.

Rücknahme der Kontrolldichte

Der Kontrollansatz der Verwaltungsgerichte zu § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG sei zudem nicht von vornherein mit der Verfassung unvereinbar.

Grundsätzlich könne es zu einer mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbaren Begrenzung der gerichtlichen Kontrolle führen, wenn die Anwendung eines Gesetzes tatsächliche naturschutzfachliche Feststellungen verlangt, zu denen weder eine untergesetzliche Normierung erfolgt ist noch in Fachkreisen und Wissenschaft allgemein anerkannte Maßstäbe und Methoden existieren. Soweit es zur Beantwortung einer sich nach außerrechtlichen naturschutzfachlichen Kriterien richtenden Rechtsfrage an normativen Konkretisierungen fehlt und in Fachkreisen und Wissenschaft bislang keine allgemeine Meinung über die fachlichen Zusammenhänge und die im Einzelfall anzuwendenden Ermittlungsmethoden besteht, stoße die verwaltungsgerichtliche Kontrolle an Grenzen. Dem Verwaltungsgericht sei es dann objektiv unmöglich, den Sachverhalt vollständig aufzuklären und eine abschließende Überzeugung davon zu gewinnen, ob das Ergebnis der Entscheidung der Behörde richtig oder falsch ist.

Die Grenzen der gerichtlichen Kontrolle beträfen insoweit nicht die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und ergäben sich hier nicht daraus, dass der Verwaltung eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative eingeräumt wäre. Vielmehr rührten sie schlicht aus der Tatsache, dass sich die Richtigkeit des Ergebnisses der Verwaltungsentscheidung objektiv nicht abschließend beurteilen lässt. Wenn die gerichtliche Kontrolle nach weitestmöglicher Aufklärung an die Grenze des Erkenntnisstandes der ökologischen Wissenschaft und Praxis stößt, zwinge Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG das Gericht nicht zu weiteren Ermittlungen. Stattdessen sei es dem Gericht erlaubt, seiner Entscheidung insoweit die Einschätzung der Behörde zu der fachlichen Frage zugrunde zu legen. Diesgelte unter der Voraussetzung, dass die von der Behörde verwendeten fachlichen Maßstäbe und Methoden vertretbar sind und die Behörde insofern im Ergebnis zu einer plausiblen Einschätzung der fachlichen Tatbestandsmerkmale einer Norm gelangt ist.

Verbleibende Prüfungspunkte

Nach allgemeinen Grundsätzen bleibe aber auch dann noch verwaltungsgerichtlicher Kontrolle unterworfen, ob der Behörde bei der Ermittlung und der Anwendung der von ihr aus dem Spektrum des Vertretbaren gewählten fachlichen Methode Verfahrensfehler unterlaufen sind, ob sie anzuwendendes Recht verkannt hat, von einem im Übrigen unrichtigen oder nicht hinreichend tiefgehend aufgeklärten Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzt hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.

Aufgabe für den Gesetzgeber

Verfassungsrechtliche Grenzen würden sich für den Gesetzgeber in diesem Zusammenhang jedoch mit Blick auf die materiellen Grundrechte und den aus Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Wesentlichkeitsgrundsatz ergeben. Der Gesetzgeber dürfe in grundrechtsrelevanten Bereichen der Rechtsanwendung nicht ohne weitere Maßgaben auf Dauer Entscheidungen in einem fachwissenschaftlichen „Erkenntnisvakuum“ übertragen, das weder Verwaltung noch Gerichte selbst auszufüllen vermögen. Er würde sich so seiner inhaltlichen Entscheidungsverantwortung entziehen. Jedenfalls auf längere Sicht müsse er daher zumindest für eine untergesetzliche Maßstabsbildung sorgen.

Ausblick

Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber sich diese mahnenden Worte zu Herzen nimmt und seiner Verantwortung zukünftig gerecht wird. Dafür müsste er die Vorschriften des besonderen Artenschutzrechts auf einen verlässlichen Maßstab konkretisieren.

 

 

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