VGH Kassel – Runderlass Naturschutz/Windenergie Hessen nicht bindend
Der neue Runderlass Naturschutz/Windenergie Hessen ist erst seit dem 01.01.2021 in Kraft (wir berichteten hier), da erteilt der VGH Kassel diesem Erlass schon wenige Tage später eine Absage. In seinem Beschluss vom 14.01.2021 (diesen finden Sie hier) stellte das Gericht kurz und knapp klar, dass es sich lediglich um eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift handele, die gegenüber Gerichten keine Bindungswirkung entfaltet.
Im zu entscheidenden Fall erachtete das Gericht konkret die im Runderlass genannte 1.000m-Abstandsempfehlung zu Rotmilanhorsten für nicht maßgeblich. Es stützte sich stattdessen auf den 1.500m-Abstand nach dem Helgoländer Papier. Zwar räumt das Helgoländer Papier die Möglichkeit ein,“die Abstandsempfehlungen landesspezifischen Gegebenheiten anzupassen“. Von dieser Abweichungsmöglichkeit hat Hessen Gebrauch gemacht.
1.000m-Abstand nicht auf ganz Hessen übertragbar
Die im Runderlass enthaltene Begründung für die Herabsetzung des empfohlenen Mindestabstands für den Rotmilan überzeugte den VGH aber nicht. Denn die vom Land Hessen beauftragte Rotmilan-Studie, anhand derer die Abstandsreduzierung begründet wurde, sei im Vogelschutzgebiet Vogelsberg durchgeführt worden. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Ergebnisse dieser regionsspezifischen Studie auf das gesamte Bundesland Hessen übertragbar seien. Die Empfehlungen des Runderlasses zu den Mindestabständen gäben nicht „flächendeckend den besten wissenschaftlichen Erkenntnisstand für Hessen wieder“.
Eigene fachliche Einschätzung des Gericht
Dieser Beschluss ist in seiner Deutlichkeit so bemerkenswert wie unverständlich. Denn das Gericht begründet seinerseits nicht, weshalb ausgerechnet die 1.500m-Abstandsempfehlung des Helgoländer Papiers für das gesamte Bundesgebiet und speziell auf Hessen übertragbar und der beste wissenschaftliche Erkenntnisstand sein soll. Das Gericht nimmt letztlich eine eigenständige Einschätzung vor, welche fachliche Meinung seiner Ansicht nach „die Beste“ sei. Dies dürfte nicht zuletzt bei all jenen Naturschutzverbänden, die selbst am Runderlass mitgearbeitet und diesen ausdrücklich begrüßt haben, auf erhebliche Irritation stoßen.
Insoweit steht dieser Beschluss jedenfalls in Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerfG zur naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative der Behörden. So bestätigte das BVerfG, dass die verwaltungsgerichtliche Kontrolle an Grenzen stößt, soweit sich zu außerrechtlichen, naturschutzfachlichen Kriterien bislang keine allgemeine wissenschaftliche Meinung gebildet hat. Insoweit bestünde auch nicht etwa eine Vermutung zugunsten der Gerichtsbarkeit, dass sie über mehr Expertise verfügte als die Verwaltung. Eine selbständige gerichtliche Einschätzung bleibt angesichts einer unzureichenden fachlichen Erkenntnislage zwangsläufig genauso mit Unsicherheit behaftet.
Leider ist dieser Beschluss unanfechtbar. Somit bleibt abzuwarten, ob weitere Oberverwaltungsgerichte in der Zukunft ebenfalls eigenständige fachliche Einschätzungen zu Mindestabständen entwickeln werden.