(K)eine schöne Überraschung! – EuGH kippt deutsche Kundenanlage
Mit deutlich unerwartetem Ergebnis hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil vom 28.11.2024 (abrufbar hier) zum Begriff der Kundenanlage nach § 3 Nr. 24a EnWG geäußert. Das Gericht hat mit einem Federstrich eine jahrelang gelebte Praxis dezentraler Versorgungsmodelle über den Haufen geworfen und die deutsche Energieversorgungsbranche vor (möglicherweise unlösbare?) Herausforderungen gestellt.
Worum geht es?
Bereits seit dem Jahr 2011 kennt das deutsche Recht in § 3 Nr. 24a und b EnWG mit der sogenannten Kundenanlage eine bedeutende Bereichsausnahme von dem allgemeinen Grundsatz der Regulierung von Netzstrukturen. Stark zusammengefasst unterliegen Energieanlagen, die sich auf einem eng umgrenzten Gebiet befinden und lediglich der Versorgung einer überschaubaren Anzahl von Letztverbrauchern oder gar nur dem Anlagenbetreiber dienen, also für den Energieversorgungswettbewerb letztlich nicht relevant sind (Kundenanlage), nicht den strengen, an Netze zu stellenden rechtlichen Anforderungen. Konsequenz dieser Ausnahmeregelung ist einerseits, dass Kundenanlagen anders als Netze keiner Genehmigung nach dem EnWG bedürfen und auch sonst nicht reguliert werden. Andererseits gilt aber auch, dass für innerhalb solcher Kundenanlagen gelieferte Strommengen keine Netzentgelte anfallen.
Gerade diese (wirtschaftlichen) Vorteile haben in der jüngeren Vergangenheit zur Implementierung zahlreicher dezentraler Versorgungskonzepte geführt und geradezu einen Trend zur Eigenversorgung bzw. Drittbelieferung gesetzt. Es verwundert deshalb auch nicht, dass immer wieder Rechtsstreitigkeiten um die Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale der Kundenanlage entbrannt sind. Zuletzt hatte sich der BGH mit Urteilen vom 11.12.2019 (wir berichteten hier) hierzu geäußert und geurteilt: Eine Kundenanlage liegt im Regelfall dann nicht vor, wenn mehrere Hundert Letztverbraucher angeschlossen sind, die Anlage eine Fläche von deutlich über 10.000 m² versorgt, die jährliche Menge an durchgeleiteter Energie voraussichtlich 1.000 MWh deutlich übersteigt und mehrere Gebäude angeschlossen sind.
Und was ist passiert?
Die Grenzen dieser – nach wie vor recht vagen – Kriterien sind, wie nicht anders zu erwarten stand, durch die Branche zusehends ausgereizt worden. Der Bundesgerichtshof hatte deshalb im Jahr 2022 über einen Fall zu entscheiden, in dem vier bzw. sechs Wohnblöcke mit 96 bzw. 160 Wohneinheiten auf einem Gebiet von 9.000 m² bzw. 25.500 m² durch zwei Blockheizkraftwerke dezentral versorgt werden sollten. Der Betreiber dieser Anlagen hatte beim Betreiber des örtlichen Verteilnetzes beantragt, die hierfür geschaffenen Versorgungsstrukturen als Kundenanlage an sein Netz anzuschließen. Das lehnte der Netzbetreiber mit Blick auf die Größenordnung der jeweiligen Vorhaben aber ab.
Der sich hieraus entwickelnde Rechtsstreit landete letzten Endes vor dem BGH, der Zweifel daran hegte, ob sich das konkrete Vorhaben noch im Rahmen der von ihm entwickelten Rechtsprechung bewegte. Weil es sich bei § 3 Nr. 24a EnWG aber nicht um rein nationales Recht, sondern vielmehr um eine Norm handelt, die auf europäische Vorgaben – nämlich konkret auf die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie vom 05.06.2019 (Text abrufbar hier) – zurückgeht, legte das höchste deutsche Zivilgericht diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vor.
Überraschende Entscheidung des EuGH: Kundenanlage? Gibt’s nicht!
Der EuGH sah sich aber nicht etwa dazu veranlasst, die Rechtsprechung des BGH zu Umfang und Größenverhältnissen einer Kundenanlage weiter auszudifferenzieren. Stattdessen schrieb er dem Deutschen Gesetzgeber ins Stammbuch, dass die von ihm entwickelten Kriterien zur Schaffung einer Bereichsausnahme von der Netzregulierung mit europäischem Recht nicht vereinbar ist. Auf den Punkt gebracht heißt das: Das Konzept der deutschen Kundenanlage ist europarechtswidrig.
Begründet wird dies in erster Linie damit, dass die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie den Begriff des (Verteil-)Netzes – vielmehr der Verteilung von Elektrizität – lediglich von der Spannungsebene (erfasst sind Niederspannung, Mittelspannung und Hochspannung) und von den zu versorgenden Kunden abhängig macht. Weitere Kriterien, insbesondere zur negativen Abgrenzung von einem solchen Netz, kennt das Gemeinschaftsrecht nicht.
Dem nationalen Gesetzgeber sei es deshalb, aber vor allem auch mit Blick auf die Ziele der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie (Wettbewerbsschutz) verwehrt, Regelungen zu schaffen, die bestimmte Energieanlagen, welche den Vorgaben der Richtlinie zufolge dem Begriff des Verteilernetzes unterfallen, durch einschränkende Tatbestandsmerkmale vom Netzbegriff und damit vom allgemeinen Regulierungsbedürfnis auszunehmen.
Und nun? Fragen über Fragen!
Die – so letztlich unerwartete – Entscheidung des EuGH hat für ein böses Erwachen in der Branche gesorgt und dürfte viele Betreiber dezentraler Versorgungskonzepte vor enorme Herausforderungen stellen. Angesichts der unüberschaubaren Vielzahl von Kundenanlagenkonstellationen sind die Konsequenzen dieser Rechtsprechung derzeit nur ansatzweise zu erahnen.
So bleibt etwa klärungsbedürftig, ob ein bestimmter Umfang bzw. eine gewisse Vermaschung der maßgeblichen Leitungsstruktur erforderlich ist, um überhaupt von einem Netz sprechen zu können. Dazu äußert sich der EuGH nicht. Deshalb steht auch für das übliche Haus- bzw. Objektnetz, das der Versorgung etwa von Mietern dient, die Frage im Raum, ob eine solche Leitungsstruktur nicht ebenfalls Netzregulierung zu unterstellen ist.
Der Gesetzgeber hatte überdies den Kundenanlagenbegriff erst jüngst dahingehend erweitert, dass auch die Verbindung von Energieanlagen mit Direktleitungen von max. 5.000 m nicht zwingend gegen das Vorliegen einer Kundenanlage sprechen müssen. Schon diesbezüglich ist nicht klar, wie sich Netz und Direktleitungen voneinander abgrenzen lassen. Das dürfte mit Blick auf das EuGH-Urteil nun noch essenzieller und vor allem noch schwieriger sein.
Fraglich ist zudem, ob die schon zu Zeiten der EEG-Umlage aus der Taufe gehobenen Pachtmodelle ein Revival erleben, um so das vom EuGH bemühte Kriterium der Kundenbelieferung zu umgehen. Schließlich ist auch unklar, welche Auswirkungen die Rechtsprechung auf die Regelungen des EEG als solche haben. Denn auch das EEG kennt einen eng an die Vorgaben des EnWG angelehnten Netzbegriff. Nicht wenige Betreiber haben zur Implementierung dezentraler Versorgungskonzepte nämlich den Weg über Arealnetze bzw. Direktleitungen in Verbindung mit einer Überschusseinspeisung gewählt. Ob und in welchem Rahmen das künftig weiterhin zulässig ist, wird sicher auf den Prüfstand kommen.
Es bleibt spannend
Mit all diesen Fragen wird sich die künftige Bundesregierung auseinandersetzen müssen. Zwar dürfte das Judikat des EuGH zunächst nur zwischen den Parteien gelten und keine unmittelbare Auswirkung auf die gesetzlichen Vorgaben in § 3 Nr. 24a und b EnWG entwickeln. Doch steht zu erwarten, dass Gerichte und Behörden diese Rechtsprechung bei der künftigen Rechtsanwendung maßgeblich berücksichtigen werden. Es bleibt also spannend. Wir halten Sie auf dem Laufenden.